Sonntag, 13. März 2016

Deutschland, deine Zeigefinger

Ich fange diesen Post jetzt zum vierten Mal neu an. Vielleicht sollte ich einfach akzeptieren, dass ich nicht hundertprozentig die richtigen Worte finden werde. Weil mich das Thema aufwühlt. Weil es immens wichtig, aber auch immens groß und schwer ist. Weil es mir in der Kehle festhängt und sie zuschnürt. Weil es mir Angst macht. Weil ich keine Expertin bin und vielleicht zu wenig Wissen habe, um darüber zu schreiben.
Aber dieser Blogpost von Alex und Georg (Beziehungstat) geht mir seit mehreren Tagen nicht aus dem Kopf, und die Wahlergebnisse des heutigen Tages haben ihr übriges getan.
„Wir sind dankbar für Persönlichkeiten, die sprechen“, schreiben Georg und Alex, und auch, „man muss nicht prominent sein, um zu sprechen.“

Ich bin nicht prominent. Mein Blog hat genau zwei Follower, und vielleicht sind das auch die einzigen beiden Menschen, die diesen Post hier lesen werden. Vielleicht nicht einmal die.
Aber ich möchte reden. Aus dem einfachen Grund, weil ich glaube, dass egal jetzt vorbei ist. Wenn es dir zu lange egal ist, wird die Entscheidung irgendwann für dich getroffen. Und soweit lasse ich es nicht kommen.

Jetzt also Versuch vier, in der Hoffnung, dass er ein bisschen kohärenter und eloquenter als seine drei Vorgänger wird.

Es lässt sich immer viel mit dem Satz „aber ich war’s ja nicht“ klären. Das ist mir in letzter Zeit aufgefallen. Ich sehe erhobene Zeigefinger an jeder Ecke, und mindestens so oft, wie sie auf jemanden hinzeigen, zeigen sie von einem selbst weg.
Nicht alle Sachsen sind AfD-Wähler. Nicht alle AfD-Wähler sind Nazis. Nicht alle Nazis vergasen Andersdenkende.
Und heute: Nicht NUR Ostdeutschland. Auch Baden-Württemberg hat die AfD gewählt, und zwar nicht zu knapp.
Das sind so Argumente, auf die mir immer zwei Antworten einfallen. Erstens: Ja, ich weiß. Zweitens: Warum sagst du mir das jetzt gerade?
Es ist immer ganz einfach, es nicht gewesen zu sein. Damit gehört man sogar zur Mehrheit – noch, gottseidank – in Sachsen-Anhalt haben heute mehr als drei Viertel der Wähler die AfD NICHT gewählt. Das ändert nur nichts an der Tatsache, dass auch für diese drei Viertel, die es nicht waren, die Entscheidung des übrigen Viertels relevant und aktuell ist.
Für den Flüchtling aus dem Kriegsgebiet, für die Muslimin mit Kopftuch, für die junge Frau, die endlich mit ihrer Lebensgefährtin auf der Straße Händchen halten möchte, ist es jetzt, in diesem Moment, egal, wer zu den 23 Prozent gehört und wer zu den 77. Was nicht egal ist, ist, dass die 23 Prozent da sind. Für den Flüchtling, für die Muslimin, für das lesbische Mädchen, und für uns alle anderen auch.

Ist das jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt, sich selbst davon zu distanzieren?
Wohnt ihr alle, die es nicht waren, nicht im selben Land? Geht euch das Ergebnis nichts an, auch wenn ihr vielleicht nicht direkt daran beteiligt wart?

Verdammt, ich sehe so viele Anschuldigungen und Gegenanschuldigungen, und sie machen mich traurig und wütend. Nicht ganz so traurig und wütend wie das Wahlergebnis, aber fast genauso sehr.
Da hat in vier Bundesländern eine Partei einen zweistelligen Prozentanteil bei den Landtagswahlen erreicht, die blatant rechtspopulistisch ist, und wir sind alle zu sehr damit beschäftigt, es nicht gewesen zu sein.

Ich verstehe den Frust über Pauschalanschuldigungen. Ich verstehe den Wunsch, sich davon zu distanzieren, wenn jemand sagt, „meine Güte, Sachsen-Anhalt“. (Sorry, Sachsen-Anhalt, dass ihr gerade mein Beispiel sein müsst.) Pauschalanschuldigungen sind nicht zielführend. Pauschalanschuldigungen können sogar gefährlich sein. Ich möchte nicht ins Detail gehen, was meiner Meinung nach alles mit dem Satz „AfD-Wähler sind halt dumm“ falsch ist, aber unter anderem vereinfacht und verharmlost er ein sehr komplexes Thema. Wenn man sich selbst intellektuell überlegen fühlt, nimmt man sein Gegenüber automatisch weniger ernst. Aber wenn uns die vergangenen Wahlen wohl eins gezeigt haben, dann dass man die AfD sehr wohl ernst nehmen muss.

Auf eine Pauschalanschuldigung allerdings mit „nicht ALLE xyz“ zu reagieren, ist genauso wenig zielführend. So dreht sich die Diskussion im Kreis. Niemand will es gewesen sein. Niemand fühlt sich zuständig.
Dabei geht es alle etwas an.
Die deutsche Politik wandert langsam aber sicher immer weiter nach rechts. Und das ist Realität für alle. Für alle AfD-Wähler, für alle Nicht-AfD-Wähler, für alle Nicht-Wähler.
Was man daraus jetzt macht, ist jedem und jeder selbst überlassen.
Mir bleibt nur die Frage, ob das krampfhafte Es-Nicht-Gewesen-Sein in irgendeiner Weise einen Benefit bringt.

Ich weiß nicht.
Vielleicht ist dieser Post genauso ein Zeigefinger, wie ich sie nicht mehr sehen kann. Vielleicht sehe ich das auch alles falsch. Vielleicht ist es ja in einer Weise wichtig zu sagen, Moment, ich war das aber nicht, und auch nicht alle Sachsen, oder alle Baden-Württemberger, oder alle Hessen, oder überhaupt alle Deutschen.


Nur, wenn man’s nicht gewesen ist und es trotzdem passiert – wie geht’s dann weiter? Ich glaube, das ist im Moment die wichtigere Frage.